Wissen, was recht ist: Wie schafft die Justiz den Sprung ins digitale Zeitalter?
Der Dieselskandal hat ein Kernproblem der deutschen Rechtsprechung wieder ins Bewusstsein der (Fach-)Öffentlichkeit gerückt: Die allerwenigsten Gerichtsentscheidungen werden überhaupt veröffentlicht. Viele Bürger:innen halten das Gerichtssystem für ein „Buch mit sieben Siegeln“, und eine aktuelle Studie belegt, dass der Anteil veröffentlichter Urteile seit 1971 praktisch nie über 1 Prozent aller erlassenen Urteile lag. Wenn also selbst juristische Expert:innen 99 von 100 Gerichtsurteilen gar nicht kennen (können), was bedeutet das für unser Rechtssystem?
Es bedeutet zum einen, dass wirtschaftlich motivierte Akteure „von außen“ Einfluss darauf nehmen können, welche Entscheidungen das Licht der Öffentlichkeit erblicken – und welche nicht. Zum anderen entstehen Anreize für Richter:innen, „von innen“ zu steuern, welche ihrer Entscheidungen sicht- und damit kritisierbar werden. (Nicht nur) Im Dieselskandal führte ein Zusammenspiel dieser und weiterer Faktoren zu einer sogar für Expert:innen undurchschaubaren Verzerrung unseres Wissens über das von der Justiz geschaffene Recht.
Bislang wird dieser Zustand vor allem mit zwei selten hinterfragten Behauptungen gerechtfertigt: Zum einen soll es aus Gründen des Datenschutzes unzulässig sein, Gerichtsurteile ohne aufwändige Anonymisierung zu veröffentlichen, zum anderen soll auch im demokratischen Rechtsstaat nur dasjenige veröffentlicht werden müssen, das „veröffentlichungswürdig“ ist.
Sind diese Behauptungen überzeugend? Welche (anderen) Hürden lassen sich für die mangelnde Digitalisierung der deutschen Justiz identifizieren? (Wen) Interessiert überhaupt, was deutsche Amtsgerichte entscheiden? (Wie) Lassen sich Hemmschwellen abbauen und Anreize schaffen, um die Justiz transparenter zu machen? Wer soll das finanzieren, und gibt es praktikable Alternativen zu einer zentralen amtlichen Publikationsplattform? Welche gesellschaftlichen Akteure könnten den Wandel am nachhaltigsten gestalten – und wie?


Betreuender Forschender
Hanjo Hamann

Foto: Mario Iser 2021
Hanjo Hamann studierte Jura in Heidelberg und Hamburg, mit weiteren Ausbildungsstationen in Erfurt, Speyer, Leipzig und Tübingen. Er promovierte in Bonn und Jena in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und ist seit 2016 an einem Max-Planck-Institut in Bonn und an der Freien Universität in Berlin tätig. Auslandsaufenthalte führten ihn nach Italien, China, Südafrika und in die USA. Er beschäftigt sich mit Vertrags- und Unternehmensrecht samt ihrer Bezüge zu empirischen Nachbardisziplinen wie den Verhaltens- und Sprachwissenschaften.